Das Protection-Dilemma

Kunden über Altersversorgung zu beraten, ohne darauf aufmerksam zu machen, dass ihnen beim Aufbau von Versorgungskapital die Gesundheit einen Strich durch die Rechnung machen kann („Jeder Vierte wird berufsunfähig…“), ist unvollständig und nicht wirklich kundenorientiert.

Kunden über Berufsunfähigkeit zu beraten, ohne zu thematisieren, dass spätestens mit Beginn ihrer Regelaltersrente die BU-Leistung endet und sich eine i.d.R. zu niedrige gesetzliche Altersversorgung anschließt, ist unvollständig und nicht wirklich kundenorientiert.

Kunden mit BU-Leistungen in einer Höhe und zu einem Preis zu versichern, dass dem Kunden zum Aufbau von Altersversorgung (Rente oder Kapital) die freien Mittel hierzu fehlen, ist und bleibt im Kern eher Produktberatung statt kundenorientiertes Vorsorgemanagement.

In allen genannten Fällen kann man nicht von „integrierter Vorsorgeberatung“ sprechen.

Was ist unter „integrierter Vorsorgeberatung“ zu verstehen?

Leitsatz: Das oberste Ziel eines integrierten Vorsorgekonzeptes ist, dem Kunden in jeder Lebenslage soviel Liquidität (Einkünfte) zu sichern, dass er seinen Lebensunterhalt auf Dauer (lebenslang) bestreiten kann. 

Die 3 Lebenslagen, bei denen das Einkommen einbricht oder gänzlich entfällt, sind

  • Berufs- und/oder  Erwerbsunfähigkeit
  • Todesfall
  • Altersrentenbeginn

Ich schlage daher vor, zur Unterstützung einer integrierten Vorsorgeberatung generell von EINKOMMENSSICHERUNG und EINKOMMENSSICHERUNGSKONZEPT zu sprechen und die drei Konstellationen im Zusammenhang zu betrachten.¹

Worin besteht nun das Protection-Dilemma?

Wenn der Vermittler mit dem Kunden über BERUFSUNFÄHIGKEIT spricht, müsste die erforderliche BU-Rente so hoch sein, dass der Kunde damit seinen Lebensunterhalt bestreiten, seine Warmmiete bezahlen, die Ausgaben für seinen freiwilligen Krankenversicherungsschutz (mind. 204, max. 900Euro) leisten plus die Beiträge für seine sich spätestens ab Endalter 67 anschließende private Altersversorgung finanzieren kann. (Eine gesetzliche Erwerbsminderungsrente, die in mindestens gleicher Höhe in eine Regelaltersrente übergeht,  wird bei „nur BU“ bekanntlich nicht geleistet.)

Ich muss keinen näheren Beweis führen: Jeder Vermittler weiß, dass dies aus mindestens 2 Gründen nicht möglich ist:

1. Die finanzielle Risikoprüfung des Versicherers erlaubt keine entsprechend hohe BU-Rente (max. 60% vom Brutto oder 75% vom Netto). Im Regelfall (Ausnahme: Steuerklasse III/Kinder) ist 60% vom Brutto größer als 75% vom Netto.

2. Der normale Kunde kann dies nicht bezahlen, zumindest dann nicht, wenn auch noch ausreichend Mittel für die dringend nötige  Altersversorgung frei bleiben sollen.²

Ein (vorschneller) Ausweg aus dem Dilemma bestünde darin, den Blickwinkel zu wechseln und mit dem Kunden nicht die BERUFSUNFÄHIGKEIT zu thematisieren, sondern über den generellen Verlust der Arbeitsfähigkeit zu sprechen, sprich: ERWERBSUNFÄHIGKEIT.

Dies hätte (zunächst) die folgenden positiven Nebeneffekte:

Die zu schließende Versorgungslücke wäre deutlich geringer.
Der Kunde wäre KVdR-Rentner und die hohe Belastung (mindestens 204 Euro mtl.) für eine freiwillige KV entfiele.
Die Altersversorgung wäre deutlich höher als der Wert „bislang erreichte Rentenanwartschaft nach heutigem Stand“, da die spätere Altersrente   mindestens dem Stand der Vollerwerbsminderungsrente (mit Zurechnungszeit bis EA 65 und 10 Monate/Stand 2021) entspricht.
Der Vermittler könnte die Versorgungslücke mit einem Erwerbsunfähigkeitsschutzbrief oder mit einem Berufsunfähigkeitsschutzbrief schließen. (Ich empfehle die BU-Variante, da es hier deutlich schneller zu einer Leistungszusage kommt.)

Eine weitere Möglichkeit wäre, dem Kunden ein Produkt aus dem Protectionportfolio anzubieten, das allerdings weder an den Beruf noch an die allgemeine Einkommenserzielung³ gekoppelt ist:

GRUNDFÄHIGKEITSVERSICHERUNG

Eine Grundfähigkeitsrente in vergleichbarer Höhe wäre auf den ersten Blick deutlich preiswerter.
Der Verlust einer Grundfähigkeit ist nur dann existenzgefährdend, wenn dieser Verlust zur Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit führt. Wenn man eine Grundfähigkeit verliert, aber dennoch ein Einkommen erzielen kann, ist dies zwar für den Kunden mehr als bedauerlich, aber nicht existenzgefährdend. So betrachtet gehen die BU und EU-Lösung deutlich einem Grundfähigkeitsschutz vor!

In der Realität halte ich den umgekehrten Sachverhalt für eher zutreffend und wahrscheinlich: Bevor ein Kunde die hohe Hürde des Grundfähigkeitenverlustes übersteigt, ist er in der Regel – vielleicht sogar lange vorher – ein BU- oder EU-Fall. (Ich denke hier nur an Krankheiten wie Schlaganfall, Muskeldistrophobie, Multiple Sklerose u.ä., die häufig einem Verlust an Grundfähigkeiten wie Sprechen, Händegebrauch usw. vorausgehen und teilweise zeitlich deutlich früher die Auslöser von BU oder EU sind…).

Der Grundfähigkeitsschutzbrief klammert zudem die Psyche als Leistungsauslöser aus; psychische Erkrankungen sind aber mittlerweile mit über 40% Hauptursache für Berufsunfähigkeit wie auch für die gesetzliche Erwerbsminderunsgrente.

 

Gibt es eine Möglichkeit, die Beratung zur BERUFSUNFÄHIGKEIT beizubehalten und einen Ausweg aus dem oben beschriebenen Dilemma zu bieten ?

Ja, wenn der Kunde sich auf den Gedanken zu Reha, Umschulung und „Hinzuverdienst“ einlässt. Hierzu muss der Vermittler über ein schlüssiges Argumentarium verfügen.

1. Die BU-Rente muss nicht so extrem hoch abgeschlossen werden, was sich unmittelbar auf den Preis auswirkt. Der Kunde erreicht mit einer Kombination aus bezahlbarer BU-Rente plus „Hinzuverdienst“ die Gesamteinkommenssituation, die er benötigt.

2. Der Kunde ist ja „nur“ zu 50% berufsunfähig in seinem konkreten Job. Wenn nicht einmal eine 15-Stunden-Woche auf Mindestlohnbasis gesundheitlich möglich wäre, spricht vieles für das Vorliegen von allgemeiner Erwerbsminderung.

3. Ein derartiger Hinzuverdienst hätte die folgenden positiven Effekte:
Der Kunde wäre gesetzlich kranken- und rentenversichert; die hohen Ausgaben für die freiwillige KV entfielen. Durch die GRV-Pflicht erhält sich der Kunde seinen Anspruch auf eine gesetzliche Erwerbsminderungsrente. OhneZusatzjob mit Rentenversicherungspflicht würde im BU-Fall die gesetzliche EM-Rente nach 2 Jahren BU-Rentenbezug „verfallen“. Die versicherungsrechtliche Voraussetzung, dass von den letzten 60 Monaten vor Antragsstellung 36 Monate mit Pflichtbeiträgen belegt sein müssen, wäre nicht mehr gegeben. Fatal für den BU-Kunden, wenn sich im Laufe weniger Jahre sein Gesundheitszustand nicht verbessern, sondern verschlechtern würde, und er nicht mehr nur berufsunfähig, sondern erwerbsgemindert wäre.

4. Es muss sich nicht um einen Job nur knapp oberhalb der Minijob-Grenze handeln. Wichtig ist nur, dass ein – auch durch Umschulung – angestrebter und ausgeübter neuer Beruf so ausgestaltet und vergütet ist, dass es nicht zur konkreten Verweisung durch den Versicherer kommt.

5.Die Bereitschaft des Kunden, sich im Falle einer Berufsunfähigkeit um einen anderen Job zu bemühen, muss im Beratungsgespräch abgeklärt werden. Nachstehend ein Wording-Vorschlag:

„Herr Kunde, die heutige Berufs- und Arbeitswelt ist in einem Ausmaß von Veränderung und Umbruch (Schlagwort Digitalisierung) gekennzeichnet, dass Fachleute zurecht sagen: Wer heutzutage mit 20 Jahren ins Berufsleben eintritt, muss bis zu seinem Rentenbeginn zwei, drei oder gar mehr verschiedene Berufe lernen und ausüben.“  (Sprechpause nach diesem Metaebenen-Einstieg).

„Herr Kunde, was würden Sie tun, wenn durch technischen Fortschritt, durch Strukturwandel und Vergleichbares Ihr aktueller Beruf nicht mehr nachgefragt würde, Sie ihn folglich nicht mehr ausüben könnten?“

Der Kunde wird nach meiner Erfahrung das Thema Umschulung, lebenslanges Lernen etc. von ganz alleine ansprechen.

„Herr Kunde, wie würden Sie reagieren, wenn Sie Ihren aktuellen Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben könnten?“

Der Kunde erkennt, dass er dann „zwangsweise etwas anderes“ machen muss, es sei denn, er ist gesundheitlich so schwer getroffen, dass er „gar nicht mehr arbeiten“ kann. Der Kunde ist in der Unterscheidung BU / EU viel weiter, als viele Vermittler annehmen.

6. In der Kombination BU-Rente + „Hinzuverdienst“ kann der Kunde gedanklich 100% seines aktuellen Nettoeinkommens anpeilen; der angedachte Hinzuverdienst sollte vorsichtshalber knapp oberhalb der Minijobgrenze (also > 450 Euro) angesetzt werden:
Der Effekt bezüglich KVdR und Erhalt der gesetzlichen EM-Rente ist damit erreicht. Sollte der Kunde in einem künftigen Leistungsfall gesundheitlich nicht einmal zu einer solchen „einfachen“ Tätigkeit in der Lage sein, liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit Erwerbsminderung vor und die Gesamtversorgung aus privater BU-Rente plus gesetzlicher EM-Rente „passt“ auch dann wieder.

Fazit:  Wenn eine am Bedarf des Kunden orientierte BU aus finanziellen Gründen nicht möglich ist, muss der Vermittler nicht vorschnell die Perspektive wechseln (EU statt BU-Versorgung) oder auf sogenannte  Alternativprodukte (Grundfähigkeitsversicherung) umschalten. Mit einer entsprechenden Argumentation (BU plus Hinzuverdienst) kann er beim Topprodukt BU bleiben…

In der VorsorgeInventur nennen wir diesen Beratungsansatz „Berufsunfähigkeit plus

Ich empfehle, die Beratung zu BUplus sauber zu dokumentieren.
Anbei 2 Formulierungsvorschläge für ein Beratungsprotokoll:

Beispiel 1:

Herr Mustermann möchte das Risiko der Erwerbsminderung absichern. Als geeignetes Produkt wird eine selbstständige Berufsunfähigkeitsversicherung in einer Größenordnung empfohlen, die die Differenz zwischen der Erwerbsminderungsrente (aktuelle Renteninfo lag vor) und seinem aktuellen Nettoeinkommen abdeckt. Statt einer EU-Versicherung wird die BU-Versicherung empfohlen, da der BU-Fall eher eintritt und schneller geleistet wird. Für den Fall, dass Herr M. „nur“ berufsunfähig würde, kann er durch einen Hinzuverdienst seinen Lebensstandard sichern, während er bei einer privaten EU-Versicherung keine Leistung erhielte, weder gesetzlich noch privat.

Beispiel 2:

Herr Mustermann möchte seine Arbeitskraft absichern. Die Höhe der vorgeschlagenen Rente wird wie folgt bemessen: Im „worst case“ (Vollerwerbsminderung) soll die BU-Rente als Ergänzung zur gesetzlichen Rente (aktuelle Renteninfo lag vor)  das aktuelle Nettoeinkommen sichern.

Im Falle einer vorliegenden Teilerwerbsminderung oder der ausschließlichen Berufsunfähigkeit (kein Anspruch auf gesetzliche Rente!) soll die BU-Rente mindestens so hoch sein, dass der Lebensstandard durch Hinzuverdienst in einem sv-pflichtigen anderen Beruf gesichert werden kann. Dem Kunden wird vorgeschlagen, die Chancen der Nachversicherungsgarantie zu nutzen.

 

¹ Das heißt nicht, dass alle 3 Versorgungslücken „auf einmal“ zu schließen sind. Es ist kein Widerspruch zu meiner These von der „integrierten Vorsorgeberatung“, wenn mit dem Kunden zunächst die Arbeitskraftabsicherung priorisiert wird, soweit aufgeklärt und abgeklärt wurde, wann konkret mit dem Aufbau der Altersversorgung begonnen werden soll/muss.

² Wenn der Kunde berufsunfähig wird und bis zum Altersrentenbeginn bleibt, müsste er sogar überdurchschnittlich viel in seine Altersversorgung investieren, da er ja ab BU-Eintritt keine Entgeltpunkte mehr aufbaut. Als Orientierungspunkt dient in der gesetzlichen Renteninfo die Zeile „Ihre bislang erreichte Rentenanwartschaft…nach heutigem Stand“

³ Da die Grundfähigkeitsversicherung nicht an die Einkommenserzielung gekoppelt, sind die Beiträge steuerlich auch nicht als Sonderausgaben abzugsfähig.